Jutta Keichel, geb. Dingler, geboren am 01. Juli 1938 in Breslau, heute in Südafrika, Flucht mit Zwischenstation in Radeburg:
Im Februar 1945 wurde es Zeit, meine Heimat Breslau zu verlassen. Mutter, Oma, Tante (16), Schwester (1 Jahr) und ich, fast 7 Jahre, standen mit dem Minimum, das man zur Flucht mitnehmen konnte, vor der Haustür. Zum Glück rief unsere Nachbarin, dass das Telefon klingelte. Am Apparat war ein Onkel, ein Arzt. Er war bestürzt, dass wir noch da waren und verlangte, dass wir zum Bahnhof gingen. Dort stand ein Zug, der uns mitnehmen würde. Ein Glück, denn meine Schwester hätte den Treck nicht überstanden.
Die Fahrt ging bis Frankfurt/Oder. Auf welchem Weg wir nach Dresden kamen, weiß ich nicht mehr. Wir kamen im Haus meines Onkels, Theodor Krasselt, unter. Kaum angekommen, wurde Dresden am 13./14. Februar 1945 bombardiert. Eine Bombe traf auch unser Haus, in dem wir untergekommen waren.
Da mein Onkel eine Fabrik in Radeburg hatte, wurden wir dort in Sicherheit gebracht. Der Transport erfolgte mit einem Bollerwagen, von einem Pferd gezogen. Auf diesem Wagen saßen vier Frauen und drei Kinder. Unterwegs wurden wir zweimal von einem Tiefflieger beschossen. Also raus aus dem Wagen und rein in den Graben.
In Radeburg verbrachten wir die meiste Zeit im Keller. Bei Einmarsch der Russen wurde die Fabrik von Offizieren übernommen. Unter den Soldaten war ein Offizier, der mich sofort auf den Arm nahm. Ich sähe seiner Frau sehr ähnlich. Er schenkte mir einen alten, sicherlich jemanden abgenommenen Ring. Für die nächsten Tage war er unser Beschützer. Ein Schusswechsel entstand, als sich ein Soldat an meine Tante ranmachen wollte. Eine weitere gefährliche Situation entstand etwas später, „mein Offizier“ war nicht mehr da, als ein Kommissar meiner Mutter die Pistole an den Kopf hielt und verlangte, Auskunft über meinen Vater zu bekommen.
Die Zeit unseres Verbleibens war dank meiner tapferen Mutter erträglich. Zu essen gab es minimal. Pilze suchen (einschließlich Pilzvergiftung), verbotenerweise sich im Erbsenfeld satt essen, sind in Erinnerung. Trotzdem kam ich an Besseres: Mein Schulbrot war eine Scheibe Graubrot, auf der Herdplatte geröstet mit etwas Salz. In der Schule tauschte ich diese Brot mit einer Klassenkameradin gegen ein dickes Butterbrot.
Zu Ende des Jahres hatte mein Vater uns über das Rote Kreuz gefunden. Mir bleibt nur in Erinnerung, dass wir zu Weihnachten ein Päckchen bekamen, worin auch Orangen waren. Wir Kinder bissen sofort in die Schale, die natürlich nicht schmeckte.
Anfang 1945 konnte mein Vater uns in Frankfurt/Main wieder in die Arme nehmen.
von Pfarrer i.R. Horst Ramsch, Bilder aus meiner Vergangenheit – Auszüge aus einem Bericht:
…Als Breslau an Februar 1944 zur Festung erklärt wurde, flohen wir zu Verwandten nach Grube Erika (heute Laubusch) bei Hoyerswerda. Da die „Mundpropaganda“ aber bald verbreitete, dass die Schlesier wieder zurück in ihre Heimat dürften, kehrten wir zurück nach Schlesien. Wir kamen aber nur bis Liegnitz, da Breslau „Festung“ geworden war. Dort – in der Humboldtstraße – wohnten wir bis Juli 1946. Da werden Bilder in mir lebendig: Das gute Verhältnis meiner Mutter zu den Russen, weil sie für sie nähte (sie war Schneiderin). Oder wie sich mein Vater vor den Polen verstecken musste. Die russische Kommandantur hatte zu diesem Zweck an einem Zimmer unserer Wohnung ein russisches Namensschild angebracht. In diesem Zimmer versteckte sich mein Vater mit mir, denn dieses Schild verschreckte die Polen…
…Dann – im Juli 1946 kam das folgenschwere Ereignis: Am Vormittag hörten wir laute Stimmen im Treppenhaus. Wenig später verstand ich die Worte, die geschrien wurden. Es waren polnische Soldaten. Sie riefen in gebrochenem Deutsch:
„In 2 Minuten ist das Haus geräumt, wer dann nicht weg ist, wird erschossen.“ Natürlich verstand ich das alles nur akustisch. Die Tragweite des Geschehens konnte ich nicht erfassen. Das kam ja alles so plötzlich – inmitten meines Alltags. Ob meine Eltern eine Vorahnung hatten, weiß ich nicht. Sie haben meine späteren Fragen ja nicht beantwortet. Neugierig ging ich ins Treppenhaus hinaus. Da flogen auch schon die Taschen, Koffer und Säcke von oben in den Schacht der Treppenführung an mir vorbei. Ich bin im Nachhinein sehr dankbar, dass sie mich nicht getroffen haben…
Das Nächste, an das ich mich erinnerte, war, dass wir mit einem selbstgebauten Handwagen, auf dem unser Gepäck lag, auf dem Weg zum Bahnhof waren und dort in einen Zug einsteigen wollten. Aber alle Güterwagen waren besetzt. Nur mein verwunderter Vater bekam noch einen Platz im Waggon. So musste meine Mutter mit mir auf das Dach des Wagens klettern. Die nun folgende Fahrt war für mich sehr interessant und aufregend. Wenn wir unter einer Brücke durchfuhren, wurde mir zum Schutz der Kopf heruntergedrückt. Wie lange wir unterwegs waren, weiß ich nicht mehr. Eine nächste Etappe war ein Lager in Kleinwelka (bei Bautzen). Damals wussten wir noch nicht, dass wir bald an unserem späteren Ziel sein würden. Nach wenigen Tagen ging es weiter. Wie, das weiß ich auch nicht mehr. Irgendwie müssen wir noch im Tharandter Wald gewesen sein. Damit verbindet sich für mich eine traurige und schreckliche Erinnerung. Ich hatte Keuchhusten. Damit ich uns durch das Husten nicht verraten würde, bekam ich von meiner Mutter bei einem neuen Hustenanfall immer ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Das war beängstigend.
Unsere nächste Station war: Radeburg. Wie wir dahin gekommen sind, weiß ich auch nicht. In Radeburg wurden wir im Haus der Firma „Krasselt“ untergebracht. Wir wurden sehr freundlich von der Familie aufgenommen. Für mich begann damit wieder ein fast „normales Leben“. Denn ich hatte nicht nur ein Wohnung, sondern auch einen Spielkameraden gefunden: Theo, den gleichaltrigen Sohn des Hauses. Frau Laban und die Oma Dingler waren erst einmal unser neues Zuhause. Eigentlich sollten wir weitergeschickt werden nach Folbern, aber ein Gespräch meines Vaters auf dem Rathaus hatte das Ergebnis, dass wir in Radeburg bleiben konnten. Seine Behinderung war wohl der Grund dafür…
Anschrift und Kontakt
Würschnitzer Straße 1
01471 Radeburg
Ansprechpartner: Herr Hans-Theodor Dingler
Telefon: +49 2226 17518
Mail: info@dienstleistungszentrum-radeburg.de
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